Recht auf Unerreichbarkeit

Recht auf Unerreichbarkeit

– Muss der Arbeitnehmer außerhalb der Arbeitszeiten Dienstpläne ansehen? –

Mit dieser Frage musste sich nun das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein (Az.: 1 Sa 39 öD/22) beschäftigen. Mit Urteil vom 27.09.2022 entschied das Gericht:

Nein, der Arbeitnehmer muss nicht außerhalb seiner Arbeitszeit auf die Dienstpläne sehen.

Was war geschehen?

Der klagende Arbeitnehmer arbeitet als Rettungssanitäter im Rettungsdienst. An einem Dienstag endete sein regulärer Dienst um 19 Uhr und an den beiden folgenden Tagen (Mittwoch und Donnerstag) hatte er regulär frei. Laut Dienstplan sollte er dann am Freitag wieder als sog. Springer ab 07:30 Uhr zur Verfügung stehen. Nach der Dienstvereinbarung sollen Springer die Schichten anderer Arbeitnehmer übernehmen, die plötzlich ausfallen.

Während seines freien Tages am Donnerstag änderte der Arbeitgeber den Dienstplan. Hiernach sollte der Kläger nunmehr am Freitag schon um 6:00 Uhr seinen Dienst auf der Rettungswache P. beginnen. Man versuchte den Kläger per SMS und Telefon hierüber zu informieren. Erreichte diesen aber an seinem freien Tag nicht. Der Kläger hat sich den Dienstplan im Internet in seiner Freizeit auch nicht angeschaut.

Der Kläger meldete sich dann entsprechend des alten Dienstplanes am Freitag um 07:30 Uhr einsatzfähig. Hier erfuhr er nun erstmals, dass er ja schon seit 1,5 Stunden hätte arbeiten sollen.

6 Monate später geschah dann ähnliches erneut.

Der Arbeitgeber sprach hierauf eine Abmahnung aus und zog entsprechende Stunden als Fehlzeit vom Arbeitszeitkonto ab.

Hiermit war der Kläger nicht einverstanden! Er zog vor das Arbeitsgericht und verlange Entfernung der Abmahnung aus seiner Personalakte und Wiederauffüllung seines Arbeitszeitkontos.

Nach seiner Ansicht musste er an seinem freien Tag nicht erreichbar sein und schon gar nicht die Dienstpläne nach Änderungen prüfen.

Die Entscheidung (Kurzfassung)

Vor dem Arbeitsgericht Elmshorn hatte der Kläger noch keinen Erfolg.

Das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein änderte auf die Berufung die Entscheidung ab und gab dem Kläger nun Recht!

Ein Arbeitnehmer muss während seiner dienstfreien Zeit nicht telefonisch erreichbar sein. Es gibt keine Pflicht des Arbeitnehmers, während der freien Zeit telefonisch erreichbar sind. Es müssen auch keine E-Mails oder SMS’e gelesen werden. Ebenso wenig besteht eine Pflicht, Dienstpläne in der Freizeit im Internet abzurufen oder sich sonst hiernach zu erkundigen.

Der Arbeitnehmer hat in seiner Freizeit ein Recht „auf Unerreichbarkeit“.

Freizeit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass Arbeitnehmer/innen in diesem Zeitraum den Arbeitgeber/innen nicht zur Verfügung stehen müssen. Es gehört zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten, dass ein Mensch selbst entscheidet, für wen er/sie in dieser Zeit erreichbar sein will oder nicht. Der Arbeitnehmer verhält sich nicht treuwidrig, wenn er darauf besteht, in seiner Freizeit keiner dienstlichen Tätigkeit nachzugehen.

Damit musste sich der Kläger nicht früher als zuvor geplant und auch nicht an einem anderen Ort als zuvor geplant arbeitsbereit melden. Der Kläger hat nichts falsch gemacht!

Die Entscheidung (Details)

Das Weisungsrecht / Direktionsrecht

Dem Arbeitgeber steht hinsichtlich der Gestaltung der Arbeit ein Weisungsrecht / Direktionsrecht zu. Er kann daher, soweit der Arbeitsvertrag dies offenlässt, die Arbeitszeit und den Arbeitsort frei nach billigem Ermessen bestimmen.

Das Weisungsrecht / Direktionsrecht ist ein Gestaltungsrecht. Es wird durch Gestaltungserklärung ausgeübt. Bei dieser handelt es sich um eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung.

Dem Arbeitnehmer muss also diese Erklärung zugehen, damit sie rechtlich wirksam werden kann.

Dies war aber im vorliegenden Fall so nicht gegeben.

Telefonisch war der Kläger nicht erreicht worden. Die Änderung der Arbeitszeit und des Arbeitsortes ist dem Kläger durch eine telefonische Mitteilung damit unstreitig nicht zugegangen.

Auch ein Zugang per E-Mail konnte der Arbeitgeber nicht beweisen.

Allein die SMS ist dem Kläger zugegangen. Diese hatte aber in seiner Freizeit nicht zur Kenntnis genommen. Der Arbeitgeber konnte auch nicht beweisen, dass der Kläger die SMS gelesen hatte. Der Kläger hatte hierzu mitgeteilt, dass er eingehende SMS nach Sender in entsprechenden Ordnern automatisch einsortieren lasse.

Das Landesarbeitsgericht urteilte, dass die SMS frühestens mit Beginn der ursprünglich geplanten Dienstzeit, nämlich 7:30 Uhr als zugegangen gilt. Also unabhängig davon, ob der Kläger sie gelesen hatte oder nicht. Dabei orientiert sich das Gericht an der einhelligen Meinung hinsichtlich des Zugangs von Post in Briefkästen. Briefe, die in einem Briefkasten eingeworfen werden, gehen erst zu, wenn unter normalen Umständen mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist. Ob der Inhaber des Briefkasten den Brief dann tatsächlich liest, ist irrelevant.

 Der Kläger war auch nicht verpflichtet, während seiner Freizeit Anrufe entgegenzunehmen, E-Mail zu empfangen oder SMSe zu lesen . Auch war der Kläger nicht verpflichtet, den Dienstplan proaktiv in seiner Freizeit abzurufen. Eine vertragliche Nebenpflicht dahingehend gibt es nach dem Landesarbeitsgericht nicht.

Vielmehr verhält sich der Arbeitgeber widersprüchlich, wenn er einerseits dem Kläger Freizeit gewährt und andererseits von ihm verlangt, Arbeitsleistungen zu erbringen.

Arbeitszeit

Auch das Lesen von SMSen oder von E-Mail ist Arbeitszeit. Es kommt insbesondere nicht darauf an, dass das lesen nur wenige Minuten in Anspruch nimmt. Arbeit wird nicht deswegen zur Freizeit, weil sie nur in zeitlich ganz geringfügigem Umfang anfällt. Das Recht auf Nichterreichbarkeit dient neben der Gewährleistung des Gesundheitsschutzes des Arbeitnehmers durch Gewährleistung ausreichender Ruhezeiten (§ 5 Abs. 1 ArbZG) auch dem Persönlichkeitsschutz.

Im Ergebnis ist dem Kläger damit die einseitige Willenserklärung bzgl. des Weisungsrechts nicht zugegangen. Damit hatte der Arbeitgeber aber Zeit und Ort zur Erbringung der Arbeitsleistung nicht abgeändert.

Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung erfolgt in einem Umfeld, in dem Arbeitnehmer immer häufiger nach Schluss der Arbeitszeit für den Arbeitgeber tätigt werden. Es werden E-Mail oder SMSe gelesen, ohne dass dies als Arbeitszeit mit entsprechender Entlohnung angesehen wird. Durch das Internet ist es möglich, ständig, schnell und einfach auf Informationen des Arbeitgebers zuzugreifen. Ohnehin trägt mittlerweile jeder durch Smartphones das „Internet bei sich“. Der Aufwand, Informationen des Arbeitgebers abzurufen, ist daher äußert gering und geht schnell von der Hand. Wieso nicht mal kurz eine E-Mail lesen? Wieso nicht mal kurz den aktuellen Dienstplan abrufen?

Es überrascht daher nicht, dass Arbeitnehmer zwischenzeitlich vielfach Dienstpläne in ihrer Freizeit oder sogar in ihrem Urlaub abrufen, um sich über ihre Arbeitszeiten nach Ende der Freizeit / des Wochenendes / des Urlaub zu informieren. Es überrascht auch nicht, dass Arbeitgeber dies zwischenzeitlich als eine Art Nebenpflicht voraussetzen. Denn hierdurch wird der flexible Einsatz von Arbeitnehmer besonders einfach möglich.

Der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein könnten sich weitere Gerichte anschließen. Denn die Argumentation des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein erweist sich als äußerst schlüssig. Damit droht Arbeitgebern künftig möglicherweise weiteres Ungemach. Hierauf sollten sich Arbeitgeber künftig vorbereiten. Vor allem wenn die Entscheidung weiter ihre Runden dreht. Auf tagesschau.de wurde sie bereits medienwirksam publiziert.

Denn auch das Lesen der Dienstpläne gehört zur Arbeitszeit. Der Arbeitnehmer ist daher nicht verpflichtet, die Dienstpläne in seiner Freizeit zur Kenntnis zu nehmen.

Arbeitgeber müssen nach dieser Entscheidung darauf achten, dass sie die Änderungen von Arbeitszeiten und Arbeitsorten noch während der allgemeinen Arbeitszeiten gegenüber ihren Arbeitnehmern erklären. Nur hierdurch können die Pflichten der Arbeitnehmer künftig wirksam angepasst werden.

Achtung! Probleme liegen im Detail!

Es erscheint im Kontext dieser Entscheidung aber auch wichtig darauf hinzuweisen, dass das Direktionsrecht wirksam ausgeübt wird, wenn der Arbeitnehmer die Weisungen des Arbeitgebers tatsächlich, also unstreitig, erhalten hat. Wenn Arbeitnehmer sich also selbst in ihrer Freizeit über Änderungen des Dienstplanes informieren, werden diese Änderungen wirksam und die Arbeitnehmer müssen sich dann hieran halten. Es ist ausgeschlossen, die Änderungen danach zu ignorieren, wenn man sie einmal zur Kenntnis genommen hat.

Würde der Abruf des Dienstplanes im Internet beispielsweise protokolliert werden, wird die Änderung auch dann wirksam, wenn Arbeitnehmer den Dienstplan in ihrer Freizeit abrufen. Zum Abruf verpflichtet sind sie aber nach der Entscheidung nicht. Das Gleicht gilt natürlich auch, wenn Arbeitnehmer in der Freizeit tatsächlich telefonisch erreicht werden. Aber auch hier gilt: An das Telefon gehen müssen Arbeitnehmer in der Freizeit nicht.

Handlungsalternativen für Arbeitgeber

Um kurzfristige Änderungen an Dienstplänen zu ermöglichen, müssen Bereitschaftsdienste eingeführt werden. Allerdings erhalten Arbeitnehmer während ihres Bereitschaftsdienstes ggf. den vollen Lohn. Daher sind Bereitschaftsdienste aus Sicht von Arbeitgebern nicht beliebt.