Müssen Arbeitgeber die Arbeitszeit erfassen?

Eine Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts hatte im September 2022 für Aufsehen gesorgt:

Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.

https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/einfuehrung-elektronischer-zeiterfassung-initiativrecht-des-betriebsrats/

Bei vielen Arbeitgebern löste die Vorstellung der Pflicht zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystem Panik angesichts der zu erwartenden Herausforderungen in organisatorischer, technische und finanzieller Hinsicht aus. Doch wird die Suppe so heiß gegessen, wie sie gekocht wird?

Grundlegende Unterscheidungen „Arbeitszeit“

Das Arbeitsrecht ist heute sehr stark durch das Europarecht geprägt. Viele Regeln beruhen daher auf europäischen Normen. Es sind aber nicht alle Aspekte des Arbeitsrechts europäisch geprägt. Viele Bereiche bleiben weiter vom Europarecht unberührt und unterliegen bei uns ausschließlich nationalem Recht.

Alleine im Rahmen arbeitszeitrechtlicher Regelungen gibt es europäische und weiterhin auch nationale Zuständigkeiten:

  • Arbeitszeit im Sinne des Gesundheitsschutzes gehört zwischenzeitlich zur Zuständigkeit des Europarechts.
  • Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinne gehört aber weiterhin zu Zuständigkeit der deutschen Gesetzgebung. Doch was bedeutet dies?

Wie lange Arbeitnehmer arbeiten dürfen hat alleine gesundheitsschützende Aspekte. Regelungen über die Arbeitszeit sind daher europäisch. Wie viel ein Arbeitnehmer aber in der Stunde verdienen muss, ob Überstunden bezahlt werden müssen oder was alles zur Arbeitszeit gehört und vergütet werden muss, gehört weiterhin zum nationalen Recht.

Diese Aufspaltung führt unweigerlich zu Schnittpunkten in der Rechtsprechung:

So hatte der EuGH mit Urteil vom 14.5.2019 (EUGH Aktenzeichen C5518 C-55/18, NZA 2019, 683) entschieden, dass die Nationalstaaten der EU aus Gründen des Gesundheitsschutzes Gesetze zur Einführung von Arbeitszeitsystemen erlassen müssen. Deutschland ist dem bis heute nicht nachgekommen. In der Folge gab es bisher auch keine grundlegende gesetzliche Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit (mit einigen wenigen Ausnahmen für Beschäftige im Straßenverkehr oder im Mindestlohnbereich).

Im September 2022 hatte das Bundesarbeitsgericht nun „plötzlich“ entschieden, dass die Arbeitszeit aus Gründen des Gesundheitsschutzes zu erfassen sei. Die gesetzlichen Regelungen hierfür seien bereits in § 3 II Nr. 1 ArbSchG vorhanden. Damit ist das Bundesarbeitsgericht nun plötzlich dem deutschen Gesetzgeber zuvorgekommen. Denn dieser wäre ja eigentlich laut EuGH verpflichtet gewesen, die Einzelheiten bis heute gesetzlich zu regeln.

Allein aus Gründen der Entlohnung gibt es aber hiernach keine Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit. Ähnliches hat das Bundesarbeitsgericht bis heute auch nie entschieden.

Schizophrenie?

Nun mag sich der geneigte Leser fragen, was die Unterscheidung für einen Unterschied macht. Entweder es gibt eine Pflicht zur Aufzeichnung der Arbeitszeit oder es gibt eben keine! Was soll also die Unterscheidung, ob die Arbeitszeit aus gesundheitlichen Aspekten aufgezeichnet wird und nicht aus Gründen der Vergütung?

Es macht einen Unterschied! Arbeitszeiterfassung ist eben nicht gleich Arbeitszeiterfassung.

Zwar mag der Arbeitgeber nun verpflichtet sein, die Arbeitszeit aus gesundheitlichen Gründen zu erfassen. Für Arbeitnehmer ist die für den Gesundheitsschutz erfasste Arbeitszeit in der Regel aber völlig uninteressant. Welches Interesse sollten Arbeitnehmer daran haben zu wissen, dass die von ihnen geleistete Arbeit im Einklang mit dem europäisch geregelten Gesundheitsschutz steht. Praktisch ist die Information für Arbeitnehmer wertlos! Es sei denn, dass Arbeitnehmer einen körperlichen Schaden wegen der Überschreitung der gesetzlichen Arbeitszeit erlitten haben.

Wertvoll könnte die so erfasste Arbeitszeit nur für Zwecke der Einforderung von Arbeitslohn sein:

Da Überstunden häufig nicht durch Arbeitnehmer aufgezeichnet werden, ist die nachträgliche Durchsetzung von Überstundenlohn sehr schwierig.

Wie schön, wenn man sich zur Begründung der eigenen Forderung auf Daten stützen könnte, die bereits beim Arbeitgeber im Rahmen des Gesundheitsschutzes vorhanden sind. Wie schön, wenn der Arbeitgeber hierdurch quasi durch die Hintertür gegen sich selbst argumentieren müsste!

Dies wird aber nicht gelingen! Der Arbeitnehmer muss eben mehr vortragen, als nur Überstundenzeiten. Der Arbeitnehmer muss auch vortragen, dass die Überstunden vom Arbeitgeber „veranlasst“ wurden. Ohne diese Information bringt der Vortrag allein der Arbeitszeiten nichts. Die Information der erfassten Arbeitszeit, sei es wegen Gründen des Gesundheitsschutzes oder anderen Gründen, alleine ist also im Rahmen eines Überstundenprozesses wertlos. Dies hat auch das Bundesarbeitsgericht bereits am 04.05.2022 (5 AZR 359/21) so entschieden. Selbst wenn Arbeitgeber die Arbeitszeit im Rahmen des Gesundheitsschutzes aufzeichnen würden, bringt diese Information dem Arbeitnehmer also nichts. Der Arbeitnehmer kann daher auch nicht die Herausgabe dieser Information verlangen.

Was bleibt?

Vieles ist noch ungeklärt. Wie aufgezeichnet wird ist ebenfalls ungeklärt. Ein „stationäres“ Zeiterfassungssystem ist nicht verpflichtend. Auch die Aufzeichnung mit Papier und Stift dürfte ausreichen, wenn hierdurch die Arbeitszeiterfassung geeignet ist, die Zahl der täglichen und wöchentlichen Arbeitsstunden objektiv und verlässlich zu erfassen.

Rechtsfolgen aus Richtung der Arbeitnehmer dürften überschaubar sein, da das eigentliche Ziel der Informationsgewinnung im Rahmen eines Überstundenprozesses kaum erreichbar sein wird.

Ungemach könnte höchstens aus Richtung der Betriebsräte kommen. Bußgelder aus Richtung Behörden sind mangels Rechtsgrundlage nicht zu erwarten. Denn der Gesetzgeber hat es ja bis heute „verschlafen„, gesetzliche Regelungen für eine Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit einzuführen. Damit sind aber auch Bußgelder nicht möglich.

Die Aufregung ist im Ergebnis nur bedingt nachvollziehbar. Für Arbeitnehmer hat die Entscheidung keinerlei finanzielle Vorteile. Arbeitgeber müssen keine Befürchtung vor Bußgeldern haben. Ohne Sanktionen erübrigt sich aber nahezu jede Diskussion über eine Pflicht zur Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung.

Die Suppe ist damit wesentlich abgekühlt.