Kein Arbeitnehmerschutz für Arbeitnehmer einer Gewerkschaft?

Es wirkt grotesk. Eine Gewerkschaft ist eine Vereinigung der Interessenvertretung von abhängig beschäftigten Arbeitnehmern zur Vertretung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen. Gewerkschaft sollen also eigentlich die Interessen von Arbeitnehmern vertreten. Doch wenn es um die „eigene Haut“ geht, scheint zumindest die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer es nicht mehr so genau mit Arbeitnehmerrechten nehmen zu wollen.

Was war geschehen?

Die klagende Arbeitnehmerin war bei der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GdL) als Bezirksgeschäftsführerin angestellt. Seit 2013 war die klagende Arbeitnehmerin zudem einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Die Klägerin beantragte bei der beklagten Gewerkschaft am 29.03.2016 für die Zeit beginnend ab dem 01.07.2016 die Reduzierung ihrer wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden auf 30 Stunden pro Woche und eine Neuverteilung ihrer reduzierten Arbeitszeit. Auf Freitags sollte keine Arbeitszeit mehr gelegt werden.

Dies lehnte die GdL aus betrieblichen Gründen ab. Denn auch freitags müsse eine Beratung der Mitglieder sichergestellt werden. Eine Beratung durch eine andere Person käme auch nicht in Betracht, da es erforderlich sei, dass die Klägerin als „fester Ansprechpartner“ den Ratsuchenden immer zur Verfügung stehe. Daher sei die Anwesenheit der klagenden Arbeitnehmerin erforderlich, auch am Freitag.

Mit ihrer Klage beim Arbeitsgericht Frankfurt am Main beantragte die Klägerin die Beklagte zu verurteilen

  1. der Verringerung der Arbeitszeit der Klägerin von 39 Stunden pro Woche auf 30 Stunden pro Woche ab dem 1. Juli 2016 zuzustimmen, mit nachfolgender Verteilung:
  • Montag bis Mittwoch je 8 Stunden unter Beibehaltung des bisherigen vertraglichen Arbeitszeitbeginns (ab 7:30 / 8:00 Uhr);
  • Donnerstag 6 Stunden unter Beibehaltung des bisherigen vertraglichen Arbeitszeitbeginns (ab 7:30 / 8:00 Uhr);
  • Freitags frei.

Die Entscheidung(en)

Die beklagte Gewerkschaft verteidigte ihre ablehnende Haltung durch alle drei Instanzen. Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main hat mit am 11. April 2017 verkündetem Urteil (Az. 5 Ca 4591/16) der Klage der Arbeitnehmerin auf Reduzierung und Verteilung der Arbeitszeit stattgegeben. Das von der GdL angerufene Hessische Landesarbeitsgericht als Berufungsinstanz hat ebenfalls mit Urteil vom 13.12.2018 (Az.: 9 Sa 822/17) der klagenden Arbeitnehmerin recht gegeben. Auch das Bundesarbeitsgericht (BAG, 24.06.2019 – 9 AZN 425/19) wies die Revision der beklagten Gewerkschaft ab.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht entschieden, dass die Gewerkschaft keine ausreichenden betrieblichen Gründe vorgetragen hatte, die gegen die Reduzierung der Arbeitszeit sprechen würden.

Die Krönung des Ganzen

Obwohl die Gewerkschaft in allen drei Instanzen unterlag, versuchte die GdL vor dem Bundesverfassungsgericht nochmals das Blatt zu wenden (29. Juli 2020, Aktenzeichen: 1 BvR 1902/19).

Vor dem Bundesverfassungsgericht vertrat die Gewerkschaft nunmehr die Ansicht, dass für sie, als Gewerkschaft, doch das Teilzeit- und Befristungsgesetz nicht gelten würde. Dieses Gesetz würde sie in ihrem eigenen Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzten.

Das Grundrecht schützt die individuelle Freiheit, Vereinigungen zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden und diesen Zweck gemeinsam zu verfolgen. Geschützt ist die Koalition auch in ihrer Organisation im Sinne einer Selbstbestimmung über ihre innere Ordnung.

BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juli 2020
1 BvR 1902/19 -, Rn. 1-6

Das Bundesverfassungsgericht urteilte hierzu kurz und knapp:

„Die Verletzung eigener Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG erscheint nicht möglich.“

„Inwiefern die Gewerkschaft durch die Anwendung von § 8 TzBfG auf die bei ihr Beschäftigten in dieser Organisationsfreiheit beeinträchtigt wird, erschließt sich nicht.“

BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juli 2020
1 BvR 1902/19

Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr?

Es ist nicht nur erstaunlich, dass die beklagte Gewerkschaft ihren eigenen Arbeitnehmern nicht jene Rechte zukommen lassen will, welche sie selbst gegenüber anderen Arbeitgebern notfalls mit Streiks beansprucht bzw. sich selbst jene Flexibilität nicht abverlangt, die von Arbeitgebern stets gefordert wird.

Unglaublich ist das letzte Argument der Gewerkschaft, wonach das Teilzeit- und Befristungsgesetz doch nicht für die eigenen Angestellten der Gewerkschaften gelten solle und verfassungswidrig wäre. Schön dass das Teilzeit- und Befristungsgesetz in diesem Jahr seinen „20. Jahrestag“ feiert. Happy Birthday!

Gute Mitgliederwerbung sieht anders aus!

Prof. Dr. Markus Stoffels, in: NZA, Editorial 19/2020